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Es fühlt sich ein wenig so an, als ob wir in das beklemmende, grausame Herz der stalinistischen Diktatur steigen. Als ob die Räume und Mauern uns erzählen wollen, was Menschen fähig sind, Menschen anzutun.

Das Kellergewölbe des ehemaligen Untersuchungsgefängnisses der Staatssicherheit in Berlin- Hohenschönhausen wurde vor der Gründung der DDR von der Sowjetbesatzung benutzt, um in diesem vorherigen Lebensmittellager einer Großküche Staatsfeinde einzukerkern und unter Isolationsfolter zu setzen. Der Gedanke ist unvorstellbar, hier selbst gefangen zu sein oder Mitmenschen in dieser dunklen, feuchten Hölle und in ihren eigenen Ausscheidungen gefangen zu halten. Die Zellen sind so winzig, so beklemmend, dass man sich vorkommt, als wäre man zwischen Beton und Fäulnis begraben worden.

Der Mann, der uns Schüler der beiden Geschichtsleistungskurse 11/12 an diesem Mittag des 24. Februars 2015 durch diesen ersten Besichtigungspunkt unserer Berlinexkursion, die Gedenkstätte Hohenschönhausen, führt, ist selbst ein ehemaliger Häftling. Er war jedoch nicht im Kellergefängnis untergebracht, welches nach dem Aufbau der DDR nicht mehr genutzt wurde, sondern man hielt ihn einige Stockwerke über der Erde gefangen, wohin er uns jetzt führt. Die Stimmung hier ist ganz anders. Es riecht nicht mehr nach mittelalterlichem Verlies, sondern nach Linoleum und Abschirmung. Große, alte Kameras und Alarmsicherungen, Technikräume und endlose Flure voll Verhörräumen und Zellen lösen in mir das Gefühl aus, dass ich hier an einem Ort aus „1984“ gelandet bin. Unser Leiter macht uns klar, wie die Verhöre abliefen, wie mit operativer Psychologie und der ständigen Angst und Hilflosigkeit der Verhörten alle Inhaftierten zu allen möglichen Geständnissen gezwungen werden konnten. Und wie sie danach in Gefängnisse im ganzen Land gebracht worden sind, wo sie zu sozialistische Persönlichkeiten umgeformt werden sollten.

Es ist ein Aufatmen zu spüren, als wir aus der engen Totenstille von Beton, Stahlgittern und Stacheldraht wieder nach draußen gehen und mit der Straßenbahn durch ein freies, lautes und buntes Berlin fahren.

Am Abend treffen wir uns alle vor einem leuchtenden, funkelnden Theater am Potsdamer Platz, um uns das Musical „Hinterm Horizont“ mit den Songs von Udo Lindenberg anzuschauen. Man zeigt uns hier eine der anderen Seiten der DDR, den Alltag der Teilung, die Magie, die vom Westen ausging und die Lieder, die diese Atmosphäre wiedergeben.

Das Musical ist sehr lang und sehr viel Udo Lindenberg und im Dunkeln gelingt es mir, mich etwas eher davonzustehlen. Denn am nächsten Tag erwartet uns der Programmpunkt, der mich am meisten reizt: Der Besuch des Deutschen Historischen Museums nahe der Museumsinsel in Berlin-Mitte.

Hier werden wir nach unseren Jahrgängen aufgeteilt. Mein Kurs der elften Klasse beschäftigt sich mit zwei Einzelfällen aus dem schwärzesten Kapitel der Geschichte; Holocaust und Euthanasie, wobei wir die Fälle eines jüdischen Ladenbesitzers zur Zeit der Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte und den einer jungen, behinderten und deshalb ermordeten Frau behandeln und alle Beteiligten nach einem Täter-Opfer-Zuschauer- Schema katalogisieren. Dazu teilen wir uns in Gruppen auf, lesen in den ausgestellten Originalschriftstücken, sehen uns Objekte an und stellen weitere Nachforschungen in dem Teil des Museums an, welcher sich mit der NS-Vergangenheit Deutschlands befasst. Außerdem stehen uns zwei Referendare Rede und Antwort, welche das Projekt mit uns leiten.

Ich beschäftige mich mit den Tätern der Boykottaktionen und stehe betroffen vor einer Uniform der paramilitärischen Sturmabteilung (SA) der NSDAP. Mir wird einerseits ungeheuerlich bei dem Gedanken, einem SA-Mitglied in dieser Uniform gegenüberzustehen, dem es staatlich erlaubt ist, mir alle unsagbaren Dinge anzutun, die ihm einfallen. Andererseits beginne ich zu verstehen, was sich die in der Weltwirtschaftskrise ihrer Arbeit und Perspektive beraubten Männer von der Mitgliedschaft in dieser Organisation erhofft haben, die ihnen eine Grundversorgung, Kameradschaft und vor allem die Möglichkeit versprach, durch rücksichtslose Gewalt zu Anerkennung zu gelangen. Ich verstehe nun, was das Gefühl ausgemacht hat, sich hinter dieser Uniform und hinter einer gewaltverherrlichenden  Ideologie zu verstecken und sich für all die erlebte Demütigung als Proletarier an Sündenböcken zu rächen, ohne Verantwortung tragen zu müssen. Nachfühlen kann ich jedoch trotzdem nicht, wie es Menschen gelang, sich in so kurzer Zeit in grausame, sadistische Ungeheuer zu verwandeln, und muss dabei an die Aggressionstheorie von Erich Fromm denken.

Mein plötzliches Verständnis der Aufgabe von Menschlichkeit in der SA schreibe ich auch in mein Essay. Wir arbeiten sie nach einer Mittagspause aus und lesen sie einander vor.

Nachdem wir das Deutsche Historische Museum verlassen haben, haben wir noch genügend Zeit, bis unser Zug kommt, um noch die Sonne zu genießen und Großstadtluft zu schmecken, die mich neben den neuen Erkenntnissen bis zur Ankunft in Oschatz begleitet.

Max Hörügel